WiR AG

WiR AG

von Lydia Thanner und Andre Zogholy

Von 13. bis 16. Juni 2005 ging auf dem Linzer Hauptplatz ein Projekt des Linzer Kulturvereins KAPU, die WILLKOMMEN IN DER REALITÄT AKTIONSGEMEINSCHAFT (WiR AG), öffentlich in Produktion. 1

    Ein Kollektiv zahlreicher AktivistInnen der Freien Szene begründete die Belegschaft der WiR AG. Gemeinsam wurde die Alltagsrealität freien Kunst- und Kulturschaffens in Form einer Fabrik im öffentlichen Raum zur Schau gestellt. Jan Verwoert schreibt als Herausgeber des Buchs "Die Ich-Ressource. Zur Kultur der Selbst-Verwertung" über die elitäre Vorbildwirkung des künstlerischen Arbeits- und Lebensmodells:

"[...] Diese Elite ist sichtbar. Es sind die jungen urbanen Professionellen, die [...] das Erscheinungsbild der Szeneviertel mitbestimmen. Sie praktizieren den Lebensstil, für den sie werben. Sie sind Rollenmodell und Zielgruppe in einem, da sie das Image, das sie produzieren, (noch vor allen anderen) selbst konsumieren. Sie sind flexibel und machen Karriere, weil sie gelernt haben, sich selbst mit unternehmerischer Effizienz zu verwerten. [...] Die Bohème ist das Milieu, in dem ihre Ausbildung stattfindet. Das Milieu ist zudem die Job-Börse und der Pool, aus dem sich Arbeitskräfte für temporäre Projekte in immer neuen Konstellationen rekrutieren lassen."
(Verwoert 2003, S. 10)

    Die Vorzeigewirkung des Kunst- und Kulturfelds ist allerdings an negative soziale und gesellschaftliche Konsequenzen geknüpft. Die Lebensrealitäten zeichnen sich durch Beschäftigungsverhältnisse am Existenzminimum aus, wie unter anderem eine aktuelle Studie zur sozialen Lagen von KünstlerInnen in Österreich belegt. (vgl. Schelepa/Wetzel/Wohlfahrt 2008) Neue Modelle der Selbstständigkeit, Teilzeitarbeit sowie kurzfristige Projekte verknüpfen sich mit ehrenamtlichem Engagement. Phasen ohne Einkünfte wechseln mit parallelen Arbeitsverträgen in- und außerhalb des künstlerischen und kulturellen Sektors. Abhängigkeit vom Markt, Sponsoring und von Förderungen der öffentlichen Hand sind weitere Kennzeichen. (vgl. Böhm/Siegl 2009, vgl. Blimlinger/Zogholy 2007, vgl. Schiffbänker/Mayerhofer 2003) Fließende Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben, (mitunter unbezahlte) Mehrarbeit, Arbeitsüberlastungen, schwankende Erwerbssituationen und Unsicherheiten erfordern zusätzlich Flexibilität in räumlicher und zeitlicher Hinsicht.(vgl. Menger 2006, S. 53 - 62)

    Die Projekthomepage der WILLKOMMEN IN DER REALITÄT AKTIONSGEMEINSCHAFT konkretisiert den namens- und sinnstiftenden Bezug zur "Ich-AG", der "Ich-Aktiengesellschaft":

"Das kollektivistische Wesen der WiR-AG besteht [...] darin, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte des offiziellen 'Unworts 2002', der Ich-AG, zu thematisieren, zu kritisieren und auf künstlerische Art zu persiflieren. Die WiR AG richtet sich gegen die Reduzierung des Individuums auf sein marktrelevantes Talent …"
(Kulturverein KAPU 2005f, o. S.)2

    Die WiR AG beschränkte sich folglich nicht nur lokal beschränkte Themen, sondern bearbeitete allgemein gültige Kristallisationspunkte freier Kunst- und Kulturarbeit. Flexibilität und Prekarisierung waren ebenso Themen wie mangelnde soziale Absicherung, Sponsoring, Eventkultur und Gender-Aspekte. Der Aktionsradius reichte von einem Werksblatt und nachrichtenähnlichen Videobeiträgen (Newsflash) bis hin zu täglichen Lesungen, Konzerten und Symposien: (vgl. Kulturverein KAPU 2005f, o. S.)

  • TAG1 | Montag, 13. Juni 2005
    10 Uhr: Eröffnung WiR AG
    12 Uhr: Symposium "Prekäre Beschäftigungsverhältnisse"
    15 Uhr. Lesung Erwin Einzinger "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik"
    20 Uhr: Konzert Bernadette La Hengst
  • TAG2 | Dienstag, 14. Juni 2005
    12 Uhr: Symposium "Strategien zur Geschlechter-Dekonstruktion in der Popkultur"
    15 Uhr: Lesung Claudia Kaiser "Rocken und Herren"
    20 Uhr: Konzert Fuckhead
  • TAG3 | Mittwoch, 15. Juni 2005
    12 Uhr: Symposium "Individualisierung und Vereinsamung im Zeitgeist"
    15 Uhr: Lesung Eugenie Kain "Hohe Wasser" u. a.
    19 Uhr: Konzert Sylvester Boy (aka Schorsch Kamerun), Von Spar
  • TAG 4 | Donnerstag, 16. Juni 2005
    11 Uhr: Frühschoppen mit Blasmusik aus Ottensheim

    Parallel dazu erfolgten spontane Aktivitäten zur finanziellen Sicherung der WiR AG. Zu nennen sind die amtliche Lohnrunde mit dem Boss, dem Kulturreferenten Erich Watzl, oder Kooperations- und Sponsoringversuche mit der städtischen Wirtschaft. Trotz der amüsierenden Herangehensweise war die Verknüpfung mit den Alltagserfahrungen aus teils ehrenamtlicher freier Kulturarbeit zu erkennen (vgl. Liebl 2005b, o. S.), wie auch der Besuch der Tourist Information am Linzer Hauptplatz belegte:

"Die AktivistInnen erkundigten sich nach den Informationen bezüglich Kultur. [...] Auf die Frage nach alternativer Kunst und Subkultur konnten wir [...] keine [...] Auskünfte erhalten. Wir boten [...] an, unsere eigenen Kultur-Stadtpläne mit Freie-Szene-Einrichtungen aufzulegen. Das Angebot wurde [...] angenommen, die Frage der Finanzierung [...] konnte jedoch noch nicht geklärt werden."
(Kulturverein KAPU 2005b, o. S.)

    Die Zielgruppe der WiR AG bildeten Kunst- und Kulturschaffende, aber auch die kulturinteressierte Bevölkerung. Dies auch, da neben der kulturellen Nachhaltigkeit insbesondere die Sichtbarmachung kollektiver Kulturarbeit im Zentrum der Aktivitäten stand (vgl. Kulturverein KAPU 2005a, o. S.):

"Business as usual für die KulturaktivistInnen, aber von der breiten Öffentlichkeit und den KonsumentInnen von Kunst und Kultur nicht wahrgenommen, werden die Basisarbeiten und Produktionsbedingungen eines Kulturbetriebes aufgezeigt. Anhand der einsehbaren Abläufe wird auch die Problematik der prekären Beschäftigungsverhältnisse in Kunst und Kultur, die ehrenamtliche Kulturarbeit, die Thematik der Randgruppen im öffentlichen Raum, der Strukturmangel, die projektorientierte Förderpolitik, uvm. zur Diskussion gestellt."
(Versorger 2005, o. S.)

    Zu Ende des dritten Tages und nach 72-stündiger Kulturproduktion im öffentlichen Raum musste die WILLKOMMEN IN DER REALITÄT AKTIONSGEMEINSCHAFT Konkurs anmelden, sie scheiterte in ihrer Rolle als innovative Vorläuferin für andere Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Im Interview mit Andi Liebl berichteten MitarbeiterInnen über ihre Erfahrungen in der WiR AG:

"Anatol: Das Beste war der Misserfolg! Und gestern Abend mit dem Videobeitrag nach dem Konzert, wo der Spannungsbogen zu Ende gespannt wurde und die Leute gemerkt haben um was es eigentlich gegangen ist. Es hat eine Dramaturgie gegeben, eine Geschichte die zu erzählen war und die ist in allen Ausführungen gut erzählt worden!"

Huckey: "Es hat ja im Vorfeld sehr gut funktioniert. Und selbst wenn jetzt die Kulturfabrik in finanzieller und materieller Hinsicht gescheitert ist, ist sie nicht gescheitert in ideologischer Sicht. Wir haben daraus sicherlich symbolisches Kapital geschlagen."

Betty: "Die WIR AG hat bewiesen, dass wir ein Wir sind in der freien Szene."
(Liebl 2005a)

    Die WiR AG stand stellvertretend für die Sichtbarmachung der Produktionsbedingungen im freien Kunst- und Kulturbetrieb und schloss derart an zahlreiche Aktivitäten der Freien Szene an. In diesem Kontext stehen etwa die Aktionen "Kultur ist kein Honiglecken" (1995), LUXUS FÜR ALLE (2003) oder die nachfolgende Kampagne "KulturARBEIT ist Arbeit" (2008) der Kulturplattform Oberösterreich sowie zahlreiche, von Initiativen der Freien Szene in Linz verfasste Positionspapiere zur Situation im Kunst- und Kulturbereich. (vgl. KUPF - Kulturplattform OÖ 2009, vgl. Offenes Forum Freie Szene Linz 2005, vgl. Offenes Forum Freie Szene Linz 2003, vgl. Offenes Forum Freie Szene Linz 1999a, vgl. Offenes Forum Freie Szene Linz 1999b)



1 Die WiR AG wurde als erfolgreiche Projekeinreichung durch den Innovationstopf LINZimPULS 2004 ermöglicht (Schwerpunktsetzung: Neue Öffentlichkeiten - Produktion und Arbeit). Dieser wird von der Stadt Linz seit dem Jahr 2001 jährlich ausgeschrieben und richtet sich an freie KünstlerInnen, Kulturschaffende und die Freie Szene. (vgl. Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Stadtkommunikation Linz 2005, o. S.)

2 Der Begriff "Ich-AG" wurde in Deutschland mit dem "2. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (Hartz II) vom 23. Dezember 2002 geprägt. Konkret handelt es sich um einen Existenzgründungszuschuss für Arbeitslose, der insbesondere die Gründung von Kleinunternehmen fördern soll. (vgl. Versorger 2005, o. S.)



Blimlinger, Eva, Zogholy, Andre (Hrsg.), FLEXART - FLEXIBLE@ART, Linz 2007

Böhm, Martin, Siegl, Katharina, Arbeitsmarkt Kultur. Eine Annäherung in Theorie und Praxis am Beispiel der Stadtregion Linz, Diplomarbeit, Johannes Kepler Universität, Linz 2009

Heidecker, Gabriele, (Frauen-)Freie Szene?, Linz 2005,
abrufbar unter: http://www.kupf.at/node/1226, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU, WiR AG. Newsflash, Tag 1, Linz 2005g,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/newsflash/wirag-newsflash-tag1.mp4, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU,WiR AG. Newsflash, Tag 2, Linz 2005h,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/newsflash/wirag-newsflash-tag2.mp4, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU, WiR AG. Werksblatt, Nr. 1, 13. Juni 2005, Linz 2005a,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/werksblatt/WirAg_News1.pdf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU,WiR AG. Werksblatt, Nr. 2, 14. Juni 2005, Linz 2005b,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/werksblatt/WirAg_News2.pdf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU, WiR AG. Werksblatt, Nr. 3, 15. Juni 2005, Linz 2005c,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/werksblatt/WirAg_News3.pdf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU, WiR AG. Werksblatt, Nr. 4, 15. Juni 2005, Linz 2005d,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/werksblatt/WirAg_News4.pdf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU, WiR AG. Werksblatt, Nr. 5, 15. Juni 2005, Linz 2005e,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at/werksblatt/WirAg_News5.pdf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Kulturverein KAPU, WiR AG. WILLKOMMEN IN DER REALITÄT AKTIONSGEMEINSCHAFT, Linz 2005f,
abrufbar unter http://wirag.kapu.or.at, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

KUPF - Kulturplattform OÖ (Hrsg.), Abschluss erfolgreicher KUPF Kampagne "KulturArbeit ist Arbeit!". Pressetext zum Abschluss der Kampagene "Kulturarbeit ist Arbeit", Linz 2009,
abrufbar unter http://kupf.at/sites/kupf.at/files/Pressetext%20Kampagnenabschluss%20Kul..., Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Liebl, Andi, "Interviews Wir AG", KUPF - Kulturplattform OÖ (Hrsg.), KUPF-Zeitung, Nr. 112/3/05, Linz 2005a,
abrufbar unter: http://www.kupf.at/node/625, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Liebl, Andi, "Ihr werdet von wir hören!", KUPF - Kulturplattform OÖ (Hrsg.), KUPF-Zeitung, Nr. 112/3/05, Linz 2005b,
abrufbar unter: http://www.kupf.at/node/624, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Stadtkommunikation Linz, "LINZimPULS 2004", Presseaussendung vom 30.03.2005, Linz 2005,
abrufbar unter: http://www.linz.at/presse/2005/200503_12669.asp, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Menger, Pierre-Michel, Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, UVK, Konstanz 2006

Offenes Forum Freie Szene Linz, Impulstopf Freie Szene - November 1999, Linz 1999b,
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Offenes Forum Freie Szene Linz, LUXUS FÜR ALLE. Kundgebung der freien Linzer Kulturszene, Widerstand gegen Sozialabbau, Linz 2003,
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Offenes Forum Freie Szene Linz, POSITIONSPAPIER FREIE SZENE LINZ in Sachen Kunst- und Kulturentwicklung (bzw. Kulturentwicklungsplan und Weiszbuch) - Februar 1999, Linz 1999a,
abrufbar unter http://servus.at/FREIE-SZENE/main/pop_12-2-1999.html, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Offenes Forum Freie Szene Linz, PRESSEMITTEILUNG 19/01/2005. ZWISCHENBILANZ. Zwischen KEP 1999 und KH 2009. 5 Jahre nach dem Kulturentwicklungsplan. 4 Jahre vor der Kulturhauptstadt.1 Jahr mit Erich Watzl, Linz 2005,
abrufbar unter http://servus.at/FREIE-SZENE/main/Zischenbilanz09_FZ_lang.rtf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Opitz, Sven, Gouvernementalität im Postfordismus. Macht, Wissen und Techniken des Selbst im Feld unternehmerischer Rationalität, Argument, Hamburg 2004

Reinprecht, Christoph, "Prekarisierung und die Re-Feudalisierung sozialer Ungleichheit", Sonderzahl Verlag (Hrsg.), Kurswechsel, Nr. 1/2008, Wien 2008, S. S. 24 - 33

Schelepa, Susanne, Wetzel, Petra, Wohlfahrt, Gerhard, Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich, Wien 2008,
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Schiffbänker, Helene, Mayerhofer, Elisabeth, Artworks - Künstlerische Dienstleistungen im Dritten Sektor, Wien 2003,
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Versorger, Wir will Dich. Die Kulturfabrik der KAPU am Linzer Hauptplatz, Nr. 66/2005, Linz 2005,
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Verwoert, Jan, Einleitung, in: Vorwoert, Jan (Hrsg.), Die Ich-Ressource. Zur Kultur der Selbst-Verwertung, München 2003, S. 7 - 24