Schüsse im Neustadtviertel

Schüsse im Neustadtviertel

von Michael John

In Linz war die starke Zuwanderung ausländischer MigrantInnen in den frühen 1990er-Jahren mit realen Veränderungen vor allem in jenen Stadtvierteln verbunden, die einen hohen Anteil ausländischer Staatsangehöriger aufwiesen. Die Stadt wurde durch die Entwicklung inhomogener. Der Prozess einer sogenannten "Fragmentierung" wurde stärker bemerkbar. Dieser Wandel vollzog sich insgesamt nicht friktionsfrei. Ein nennenswerter Teil der österreichischen BewohnerInnen empfand und empfindet die Situation als problematisch. Konflikte im Zusammenhang mit Staatsbürgerschaft und wohlfahrtsstaatlichen Ansprüchen, mit Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Konflikte im Zusammenhang mit der Beziehung der Geschlechter, mit Rechts-, Erziehungs-, Sicherheits- und Gesundheitsansprüchen wurden und werden als ethnische bzw. nationale Konflikte zwischen Teilen der ansässigen und der zugewanderten Bevölkerung, aber auch innerhalb der Zuwanderer-Communities selbst, ausgetragen.

    Im September 1992 war die Stimmung im sogenannten Neustadtviertel entlang der Humboldtstraße bereits hochgradig aufgeladen: "Rauheres Klima: Konflikte zwischen Linzern und Ausländern nehmen zu" titelten die Oberösterreichischen Nachrichten:

"Türkische Geschäfte und Läden bestimmen das Straßenbild und lassen beim Besucher Erinnerungen an den Urlaub am Bosporus aufkommen […] Hinter der Fassade brodelt es. Immer öfter kommt es zu Reibereien zwischen Österreichern und Ausländern."
(Oberösterreichische Nachrichten vom 17. September 1992, S. 9)

    StadtpolitikerInnen forderten damals bereits BürgerInnenversammlungen, um die Spannungen zu entschärfen. Es war wiederholt die Rede davon, dass das Viertel von der Stadtpolitik vernachlässigt werde. Ein wesentlicher Grundstein für den Niedergang des eigentlich attraktiven Wohnviertels sei schon in den 1960er-Jahren mit der Umwandlung von Dinghofer- und Humboldtstraße in Einbahnen gelegt worden, so die Oberösterreichischen Nachrichten:

"Durch diese Autorennbahnen verlor das Viertel viel Qualität. 'Freiwillig zieht in dieses Viertel heutzutage ja kaum jemand', sagt ein Bewohner der Humboldtstraße. Zugleich betont er, daß er ganz und gar nichts gegen Ausländer hat. Dieser österreichische Bewohner schätzt das Vielvölkergemisch in dem Viertel: 'Es taugt mir zum Beispiel, in den türkischen Geschäften einzukaufen. Von Manhattan mit seiner Chinatown und seinem Little-Italy schwärmen viele, weil dort so viele unterschiedliche Völker leben. Über das Neustadtviertel wird aber hauptsächlich geschimpft.'"
(vgl. Oberösterreichische Nachrichten vom 25. November 1992, S. 25)

    Ein Eklat entstand in der Folge nicht durch einen österreichisch-türkischen Konflikt, sondern bei Auseinandersetzungen zwischen türkischen und kurdischen Gruppierungen im November 1992. Türkische NationalistInnen hatten einen ehemaligen Führer der rechtsextremen "Grauen Wölfe" eingeladen. In Linz lebende KurdInnen empfanden dies als Provokation. Die Polizei konnte letztlich die Auseinandersetzungen unter Kontrolle halten, es waren allerdings einige Schüsse gefallen - aus Schreckschusspistolen, aber auch aus Waffen mit scharfer Munition. 19 Personen wurden verhaftet, in der Folge in erster Linie kurdische Demonstranten rasch abgeschoben. Hungerstreiks und tausende Protestunterschriften konnten daran nichts ändern. Doris Griesler, die Enkelin von Bürgermeister Ernst Koref, schrieb einen Offenen Brief an den amtierenden Bürgermeister, indem sie fragte, wieso sich "faschistische Gruppen" [Anm.: gemeint waren die türkischen "Grauen Wölfe"] in Linz einrichten konnten und wieso diese von der Polizei mit einem Großaufgebot geschützt wurden.(ebd.)

    In der Folge waren es populistische Kräfte, welche die Auseinandersetzungen im Neustadtviertel verwerteten. In Boulevardzeitungen wurde vor allem unter der Chiffre "Türkenkrawalle" und "Straßenschlacht" in martialischer Form über die Ereignisse berichtet. (vgl. dazu auch John 1993, S. 253 - 257)

Die größte Tageszeitung Österreichs, die Neue Kronen Zeitung, titelte:

"Wüste Straßenschlacht im Linzer Türkenviertel. Krawalle bei der Moschee-Eröffnung. Politiker überfallen, da krachten Schüsse. 100 Polizisten im Großeinsatz."
(Neue Kronen Zeitung vom 22. November 1992, S. 12 f.)

    Der damals bekannteste Kolumnist des Landes, "Staberl" (Richard Nimmerrichter), meldete sich in diesem Zusammenhang zu Wort und schrieb von der "blutigen Schlacht von Linz" und "flagranter Missachtung des Volkswillens". (Neue Kronen Zeitung vom 25. November 1992, S. 10 f.) Schlagzeilen wie "Scharfe Kritik gegen Polizeidirektor und den Bürgermeister. Massive Rücktrittsforderungen nach der Linzer Straßenschlacht" oder etwa auch "Weitere Facetten um den Türkeieinsatz im Linzer Neustadtviertel: Hungernde Polizisten mussten für die Randalierer Pizzas kaufen!" heizten die Stimmung weiter an. (Neue Kronen Zeitung vom 27. November 1992, S. 6 f.) Der Mediendiskurs war eindeutig von Dramatik und Eskalation bestimmt. Auch die Mittelstandszeitung Kurier titelte: "Großalarm in Linz: Straßenschlacht rund um Türkenlokal. Schüsse und Verletzte bei Massenschlägerei!" ebenso wie "Straßenkampf im Linzer Neustadtviertel". (KURIER vom 22. November 1992, S. 1)

    Bei länger ansässigen, österreichischen ViertelbewohnerInnen führten die Vorgänge denn auch zu emotionsgeladenen und negativen Reaktionen. Die tagelange Absperrung der Straße durch die Polizei hatte zur Folge, dass AnrainerInnen nur mit Ausweisleistung zu ihren Wohnungen gelangen konnten. Weitgehende Forderungen wie Einreiseverbote, mehr Polizeipräsenz und verschärfte AusländerInnenkontrollen infolge krimineller, illegaler Machenschaften wurden von AnrainerInnen und städtischen PolitikerInnen erhoben. Die Linzer Kriminalpolizei hielt dazu jedoch fest, dass sich die Kriminalitätsrate im Neustadtviertel nicht von anderen Stadtteilen unterscheide. (Oberösterreichische Nachrichten vom 17. September 1992, S. 9) Im Neustadtviertel wurde in der Folge ein neues Wachzimmer eingerichtet. Die Polizei zeigte stärkere Präsenz. Generell ist festzuhalten, dass ausländische Staatsangehörige als ermittelte TäterInnen in Österreich überrepräsentiert sind, sie sind aber auch als Verbrechensopfer in doppelt so hohem Ausmaß von Straftaten betroffen als österreichische Staatsangehörige. (vgl. Pilgram 2007, S. 357-376; Österreichischer Integrationsfonds 2009, S. 72)

    Mittlerweile hat sich die Situation deutlich beruhigt.1 Im Rahmen der Bürgerbefragung des Jahres 2004, die vom Amt für Stadtforschung der Stadt Linz durchgeführt wurde, hielten 79 Prozent der BewohnerInnen des Neustadtviertels und des Volksgartenviertels fest: "Ich lebe gern in meinem Stadtteil", 14 Prozent würden lieber in einem anderen Stadtteil von Linz leben und 6 Prozent in einer anderen Gemeinde. (BürgerInnenbefragung 2004. Stadtforschung Linz, Volksgarten-Neustadtviertel, Froschberg, Freinberg, Teil 1 (Stadtteilverbundenheit)) 26 Prozent benannten Parkplatzprobleme als gravierendes Problem in diesem Wohngebiet, dann folgten jedoch pauschal "Ausländerprobleme" mit 19 Prozent, Verkehrsprobleme allgemein" mit 12 Prozent, "Verkehrslärm" 9 Prozent, "Verschmutzung, Winterdienst" mit 8 Prozent und Probleme mit Tieren" 7 Prozent. (ebd., Teil 2 (Probleme, Beschwerden, Wünsche)

Auch die Medien klingen mittlerweile anders: "Keine Probleme hier" hieß es im Jahre 2005. Ein Polizist wurde zitiert: "In diesem Viertel gibt es nicht mehr Schwierigkeiten als anderswo in Linz. Im Gegenteil." Bei einer Begehung des Neustadtviertel hatte die größte Regionalzeitung getitelt: "Zu Gast im Linzer Türkenviertel" und weiter:

"Das Linzer Neustadtviertel ist in und rum (sic!) um die Humboldststraße fest in türkischer Hand. Mehrere tausend Menschen mit türkischen Wurzeln leben hier […] Die meisten Menschen, die an der Humboldstraße leben und arbeiten, sprechen gut deutsch, sind ausgesprochen freundlich und überhaupt nicht reserviert […]"
(Oberösterreichische Nachrichten vom 26. September 2005, S. 3)

    Ungeachtet des relativ hohen Anteils ausländischer StadtbewohnerInnen war und ist das "Türkenviertel" in der "Neustadt" indes ein Mythos. Bei der letzten Volkszählung wurden im Neustadtviertel 4.602 ÖsterreicherInnen (80,2 %) und 1.085 AusländerInnen gezählt, davon 361 türkische Staatsangehörige, das sind 6,3 Prozent des Zählbezirks.2

    Nach den aktuellsten Ziffern, die jedoch die genaue Zahl türkischer Staatsangehöriger nicht ausweist, waren im Neustadtviertel nunmehr per 1. Jänner 2009 1.561 ausländische und 4.951 österreichische Staatsangehörige gemeldet, der AusländerInnenanteil beträgt 23,9 Prozent. 3



1 vgl. dazu auch Institut für Gesellschaftspolitik 2006, S. 20-32. Völlig ausgeräumt sind die Spannungen zwischen kurdischen und türkischen Vereinen im Neustadtviertel jedoch nicht, vgl. dazu beispielsweise: der Standard vom 21. Jänner 2008, S. 9

2 http://www.linz.at/zahlen/040_Bevoelkerung/085_Volkszaehlung/c508.pdf

3 http://www.linz.at/zahlen/040_Bevoelkerung/040_Hauptwohnsitzbevoelkerung...



John, Michael, "Döner Kebab und Burenwurst - Zur Metamorphose eines Stadtteils", in: Schmolmüller, Andres, Stadler, Gerhard (Hrsg.), Stadtbuch Linz, Wien 1993, S. 253 - 257

Pilgram, Arno, "Migration und Innere Sicherheit", in: Fassmann, Heinz (Hrsg.), 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001-2006, Wien 2007, S. 357 - 376

Österreichischer Integrationsfonds (Hrsg.), migration & integration. zahlen. daten. fakten 2009, Wien 2009

Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik (Hrsg.), MigrantInnen im Linzer Neustadtviertel, Endbericht, Linz 2006

Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Stadtforschung Linz, Bürgerbefragung 2004. Analyse, Linz 2005, abrufbar unter http://www.linz.at/zahlen/110_Forschungsprojekte/BBef2004.pdf, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009