Der Aufarbeitungsbeschluss des Linzer Gemeinderates

Der Aufarbeitungsbeschluss des Linzer Gemeinderates

von Michael John

So stellte sich Linz als eine Stadt mit zwei Gesichtern vor. Einerseits gab es seit den 1930er-Jahren eine kräftige anti-nationalsozialistische Tradition. Andererseits war Linz in den NS-Jahren privilegierte "Patenstadt" Adolf Hitlers und "Führerstadt" gewesen. Seit Kriegsende galt es, sich mit dem materiellen und geistigen Erbe dieser Zeit auseinander zu setzen. Man kann der Geschichte nicht "entkommen". So hatte sich auch Linz seiner Vergangenheit zu stellen - eine Begegnung, die oft von Widersprüchen, Rückschlägen, aber auch von Erfolgen gekennzeichnet war. Die Situation nach 1945 war jedenfalls widersprüchlich. Es wurde damals eine Reihe von Aktionen gesetzt, die problematisch waren. Dazu zählen die Anfeindungen der jüdischen DPs (displaced persons), die inkonsequente Entnazifizierung und das Verhältnis zu geraubter Kunst. Der Leiter des städtischen Kulturamtes publizierte noch 1959 den "moralischen Anspruch" der Stadt Linz auf Gemälde aus Hitlers "Sonderauftrag". Auch Hitlers privates Testament spielte dabei eine Rolle. (vgl. Kirchmayr/Buchmayr/John 2007, S. 524 f.)

    Versuche, die antifaschistische Ausrichtung der Stadt Linz anzuschärfen, hatte es seit 1945 unter Bürgermeister Ernst Koref (SPÖ) gegeben. Mit Theodor Grill (SPÖ) wurde 1968 erstmals ein "Emigrant" Bürgermeister. Grill (1902 - 1986) war 1934 inhaftiert und politisch verfolgt worden, 1938 hatte er mit seiner jüdischen Gattin definitiv das Land verlassen. Er war allerdings nur für relativ kurze Zeit im Amt. Auch Bürgermeister Hugo Schanovsky (SPÖ) engagierte sich in seiner Amtsperiode 1984 bis 1988 für eine Vergangenheitsbewältigung. Ende der 1990er-Jahre setzte in Österreich eine zweite Nachholphase in Sachen NS-Vergangenheit ein. Schon früh wurde unter Bürgermeister Franz Dobusch (SPÖ) im September 1996 ein profunder Aufarbeitungsbeschluss des Linzer Gemeinderates gefasst.

    Der an sich unspektakuläre, einstimmig gefasste "Beschluss des Linzer Gemeinderates vom 19. September 1996 zur Durchführung des wissenschaftlichen Projektes 'Nationalsozialismus in Linz'" kann als früher Startschuss der so genannten "zweiten Nachholphase" gelten.1 Mittlerweile wurden von der Stadt Linz etliche Symposien und Ausstellungen organisiert und zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter das mehr als 1.700 Seiten umfassende Werk "Nationalsozialismus in Linz". Insgesamt wirkten an den Forschungen zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus 44 HistorikerInnen mit. Vergangenheitsbewältigung wurde somit zu einem wichtigen und permanenten Bestandteil der Linzer Politik.2 Das Anbringen von Gedenktafeln und Denkmälern, Straßenbenennungen und -umbenennungen sowie die Verleihung städtischer Auszeichnungen ergänzten die wissenschaftliche Aufarbeitung. (vgl. Archiv der Stadt Linz 2005, S. 150 f.) In einer Dokumentation zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Linz wird der Bogen der Betrachtung noch weiter gespannt:

"Besonders die betont internationale Ausrichtung der Kulturpolitik und Kulturentwicklung unter dem sozialdemokratischen Bürgermeister […] und den ÖVP-Kulturreferenten Stadtrat bzw. Vizebürgermeister Dr. Reinhard Dyk (1991 - 2003) und Vizebürgermeister Dr. Erich Watzl (seit 2003) ist als Antithese zur seinerzeitigen deutschnationalen und nationalsozialistischen Identität von Linz zu werten."
(ebd., S. 150)

    Ende der 1990er-Jahre hatte überdies die VOEST-ALPINE eine HistorikerInnenkommission eingesetzt, welche die NS-Geschichte des Betriebs als Teil der "Reichswerke Hermann Göring" untersuchte. (vgl. Rathkolb 2001, Bd. 1 und 2) Ein Aufarbeitungsbeschluss des Oberösterreichischen Landtags aus dem Jahr 2002 setzte weitere, umfangreiche Schritte in Hinblick auf die kulturelle, wissenschaftliche und pädagogische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

    Einen Sonderfall der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit stellt die Kunstrestitution dar. Linz und Oberösterreich waren in den NS-Jahren eine Drehscheibe in Sachen Kultur- und Kunstgüter. Im Rahmen des "Sonderauftrags Linz" sollte in der Stadt ein "Führermuseum" eingerichtet werden, wofür eine große Anzahl von Kunstwerken zusammengetragen wurde. (vgl. Kirchmayr 2001, S. 557 - 596) Eine Reihe von potenziellen Restitutionsfällen entstand in Oberösterreich erst nach Kriegsende. Es ging dabei um "arisierte" Kulturgüter, die erst nach (!) dem Ende der NS-Herrschaft in den Besitz der Stadt Linz oder des Landes Oberösterreich gekommen waren. Nach Vorverhandlungen, die ab 1946 begonnen hatten, beschloss die Stadt Linz 1952 die Sammlung des Berliner Kunsthändlers Wolfgang Gurlitt anzukaufen. Vor diesem Beschluss hatte es Warnungen gegeben. Gurlitt war als Ankäufer des "Sonderauftrags" in NS-Diensten tätig gewesen und nach 1945 mehrfach mit Rückgabeforderungen jüdischer Überlebender konfrontiert. (vgl. Schuster 2005, S. 212 - 226)

    Bei Überprüfungen, die Bürgermeister Dobusch 1998 in Auftrag gab, stellte sich heraus, dass einige wertvolle Gemälde eine unklare und "verdächtige" Erwerbsgeschichte aufwiesen. Einen spektakulären Fall stellte die Rückgabe des Bildes "Krumau 1916" (auch "Städtchen am Fluss") von Egon Schiele an eine Erbengemeinschaft dar. Die Begründung der Stadt Linz, warum das Bild ohne rechtlichen Zwang 2003 zurückgegeben wurde, lautete:

"Die moralische Problematik liegt in den seinerzeitigen gesetzlichen Grundlagen bei Rückstellungen von entzogenem jüdischen Vermögen sowie der Rückstellungspraxis der Nachkriegszeit. Aus heutiger Sicht kann die damals vielfach geübte Praxis in Rückstellungsverfahren nicht als Wiedergutmachung, sondern vielmehr als nachträgliche Legalisierung des während der NS-Herrschaft erlittenen Unrechts bezeichnet werden."
(Pressemitteilung der Stadt Linz vom 17. Dezember 2002)

    Der Kunstraubexperte Stephan Templ hielt zur Vorgangsweise in Linz fest:

"Mit der Rückgabe betritt die Stadt österreichweit Neuland: Zum einen wird ein Dorotheumskauf aus dem Jahre 1942 nicht mehr als 'gutgläubig' behandelt, zum anderen agiert man, ohne dazu gesetzlich gezwungen zu sein."3

    Mittlerweile hat die Stadt Linz - allerdings erst nach jahrelangen Debatten - im Stadtsenat beschlossen, ein wertvolles Gemälde von Gustav Klimt, "Damenbildnis" (auch "Ria Munk III"), den Erben nach der im Zuge des Holocaust getöteten ehemaligen Eigentümerin Aranka Munk zu übergeben. (vgl. Oberösterreichische Nachrichten vom 21. April 2009, S. 1) Seit dem Erstverdacht sind zehn Jahre vergangen. Letztlich wird die Stadt Linz das Bild, dessen Provenienz von Wolfgang Gurlitt verschleiert worden war, jedenfalls rückerstatten.

    Das Archiv der Stadt Linz hat einen Band zur Thematik "Nationalsozialismus. Auseinandersetzung in Linz" herausgegeben. Darin findet sich nach 1945 die Unterteilung in: "Besatzungszeit 1945-1955", "Selektive Wahrnehmung 1955-1985" und "Verstärkte Auseinandersetzung 1986-2005". Diese Einteilung widerspiegelt verschiedene Phasen der Auseinandersetzung. Die letzte Phase lassen die AutorInnen mit den Diskussionen um den damaligen österreichischen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim beginnen. (vgl. Archiv der Stadt Linz 2005, S. 5 (Inhaltsverzeichnis)) Gegenwärtig befinden wir uns zweifellos erneut in einer Umbruchphase, was die Erinnerung an den Nationalsozialismus anlangt. In diesem Zusammenhang gibt es sowohl in der Stadt Linz, im Land Oberösterreich, in ganz Österreich, wie auch in anderen Ländern heftige Debatten.4

    Dieser Prozess geschieht nicht zufällig. Infolge des Zeitabstands nimmt die Zahl noch lebender Überlebender der NS-Herrschaft laufend ab. ZeitzeugInnen sind lebendiges Zeugnis der damaligen Ereignisse. Parallel zu dieser Entwicklung - eben der Abnahme von ZeitzeugInnen - ist die Zunahme anderer Formen der Erinnerung zu konstatieren. So positiv weltweit die Neueröffnungen von Holocaust-Museen in Oslo, Paris oder Jerusalem einzuschätzen ist (oder etwa auch 2003 die Eröffnung des Lern- und Gedenkschloss Hartheim in der Nähe von Linz) - die Musealisierung von Ereignissen ist ein untrügliches Zeichen für die Neuformierung und Neuverhandlung des kulturellen kollektiven Gedächtnisses.5

    HistorikerInnen verwenden den Begriff der "Historisierung", sie sprechen aber ebenfalls von historischen "Übergangsphasen", die wir auch in Bezug auf den Nationalsozialismus beobachten können: Mit zunehmendem Abstand von einem einschneidenden Ereignis beginnt eine "twilight zone between history and memory" ("Zwielichtzone zwischen Erinnerung und Geschichte"), wie dies Eric Hobsbawn formulierte. (vgl. Hobsbawn 1987, S. 3) Diese Übergangszeit stellt eine "Grauzone" ("floating gap") dar, und sie dient dazu, das Erfahrungsgedächtnis der ZeitzeugInnen in das kulturelle Gedächtnis der Nachwelt zu übersetzen. (vgl. Assmann 1999, S. 15) Die sich mit Erinnerung befassende Literatur setzt im Allgemeinen den Beginn der "Zwielichtzone" (twilight zone) mit ca. 40 Jahren nach dem betreffenden Ereignis an. Im Falle des Nationalsozialismus sind das die 1980er-Jahre. In Österreich trifft dies mit dem Fall Waldheim zusammen und erklärt damit die besonders heftigen Debatten. Kennzeichnend dafür sind umfangreiche Erinnerungsarbeiten, die den Transformationsprozess vorbereiten: Interviews, Autobiographien, Dokumentationen, Musealisierung.

    Die Vorbereitung eines "mediengestützten Gedächtnisses" kennzeichnet die jüngste Phase des Transformationsprozesses. Spätestens 80 Jahre nach den Ereignissen gibt es nur mehr wenige lebende ZeitzeugInnen. (vgl. dazu Lichtblau 2000, S. 1 f.) Im Zuge des Kulturhauptstadtprojekts Linz09 wurde einerseits die Möglichkeit jedenfalls nicht ergriffen, den Anstoß zu einer nachhaltigen Musealisierung, zu einer spezifischen Dokumentationsstelle in Linz zu geben. Ein gemeinsames Projekt des Archivs der Stadt Linz und des oberösterreichischen Landesarchivs lag vor, wurde aber nicht verwirklicht. (vgl. Oberösterreichische Nachrichten vom 23. Januar 2008, S. 31 und Oberösterreichische Nachrichten vom 25. März 2009 , S. 21) Die Stadt Nürnberg, eine andere ehemalige "Führerstadt", in der Größe und Bedeutungsdimension mit Linz nahezu vergleichbar, hat beispielsweise schon vor Jahren das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände eingerichtet. (http://www.museen.nuernberg.de/dokuzentrum/) Im Berchtesgadener Land gab der Freistaat Bayern den Auftrag, ein "Dokumentationszentrum Obersalzberg" einzurichten, es wurde 1999 eröffnet. (http://www.obersalzberg.de/) Mit der Linz09-Aktion "In Situ" hat die oberösterreichische Landeshauptstadt andererseits doch auch zur Erinnerungsstrategie deutscher Städte aufgeschlossen. Dabei wurden an Stellen des Linzer Stadtgebiets, an denen sich im Kontext der NS-Zeit Verfolgungsmaßnahmen zugetragen hatten, kurze Informations-Texte quasi "aufgestempelt". In Essen, Nürnberg und Berlin gehören nachhaltige Erinnerungszeichen etwa an Straßenbahnhaltestellen, in U-Bahnstationen, Passagen, Plätzen und Parks zum alltäglichen Standard.6 Die Frage des Stellenwerts, den die Aufarbeitung der NS-Verarbeitung in Stadt und Land einnehmen soll, ist allerdings im Mediendiskurs kontroversiell diskutiert worden. Die Intendanz von Linz09 ebenso wie die lokale und regionale Politik wurden auch mit der Ansicht konfrontiert, in Linz werde 2009 bei weitem zuviel für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unternommen, und die Stadt werde dadurch in ein falsches Licht gerückt. Die Oberösterreichischen Nachrichten hatten in diesem Zusammenhang eine Debatte unter dem Titel "Ist Linz eine Nazi-Stadt?" initiiert.7 Der Intendanz von Linz09 war unter anderem vorgehalten worden, ein Zehntel aller Projekte beschäftige sich mit dem Nationalsozialismus, dieser Schwerpunkt überstrahle alle anderen Themen.(vgl. Oberösterreichische Nachrichten vom 25. März 2009, S. 1 und S. 21)



1 Protokoll über die 54. Sitzung des Gemeinderats der Landeshauptstadt Linz am Do, 19. September 1996. Beilage zum Amtsblatt der Landeshauptstadt Linz Nr. 6/1996, S. 554

2 vgl. Mayrhofer/Schuster 2001, Band 1 und 2; eine Auflistung der wichtigsten Publikationen findet sich bei Archiv der Stadt Linz 2005, S. 151 f.

3 Templ, Stephan, Restitution: Wem gehören Klimt & Co?, in: Der Falter vom 15. Jänner 2003; Der Falter vom 15. Jänner 2003, Mit Verlust ist zu rechnen, S. 54

4 Parteipolitik spielt dabei oft eine Rolle, häufig gehen die Debatten aber auch über Parteigrenzen hinweg, und die Positionen können sich im Laufe der Diskussionen verändern.

5 In Schloss Hartheim, das nicht zum KZ-System Mauthausen zählte, wurden nach Schätzungen bis zu 30.000 Menschen ermordet, ein erheblicher Teil im Rahmen des Euthanasieprogramms T4.

6 Zur Aktion "In Situ" vgl. Höss/Sommer/Uhl 2009 und die Website http://www.insitu-linz09.at/

7 vgl. Oberösterreichische Nachrichten vom 25. März 2009, S. 21; Im Zusammenhang damit vgl. das OÖN-Online Video "Ist Linz eine Nazistadt" vom 28. März 2009 und sechs weitere Artikel zu diesem Thema (siehe http://www.nachrichten.at/archiv/)



Archiv der Stadt Linz (Hrsg.), Nationalsozialismus. Auseinandersetzung in Linz. 60 Jahre Zweite Republik, Linz 2005

Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999

Hobsbawn, Eric, The Age of the Empire, New York 1987

Kirchmayr, Birgit, Sonderauftrag Linz. Zur Fiktion eines Museums, in: Mayrho-fer, Fritz, Schuster, Walter (Hrsg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 1, Linz 2001, S. 557 - 596

Kirchmayr, Birgit, Buchmayr, Friedrich, John, Michael, Geraubte Kunst in Oberdonau, Nationalsozialismus in Oberdonau, Band 6, Linz 2007

Lichtblau, Albert, "Die Zukunft der Erinnerung", in: Verein Gedenkdienst (Hrsg.), Gedenkdienst, Ausgabe 2/2000, Wien 2000, S. 1 - 4

Mayrhofer, Fritz, Schuster, Walter (Hrsg.), Nationalsozialismus in Linz, Band 1 und 2, Linz 2001

Moser, Josef, "Beschäftigungspolitik im 'Dritten Reich'", in: Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Hrsg.), WISO. Wirtschafts- und sozialpolitische Zeitschrift, 15. Jahrgang, März 1993 (4/1992), S. 95 – 120

Rathkolb, Oliver (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der "Reichswerke Hermann Göring AG Berlin" 1938 - 1945, Band 1 und 2, Wien/Köln/Graz 2001

Schuster, Walter, Facetten des NS-"Kunsthandels" am Beispiel Wolfgang Gurlitt, in: Anderl, Gabriella, Caruso, Alexandra (Hrsg.), NS-Kunstraub in Österreich und die Folgen, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, S. 212 - 226