Mümtaz Karakurt geht vor Gericht

Mümtaz Karakurt geht vor Gericht

von Michael John

In der "GastarbeiterInnenzeit" der 1970er- und 1980er-Jahre wurden in vielen Betrieben die Anliegen der MigrantInnen über so genannte "Vertrauensmänner" eingebracht. Eine demokratisch legitimierte Vertretung und auch eine Form von Institutionalisierung in der Öffentlichkeit gab es nicht. Im Jahr 1985 wurde in Linz als Reaktion auf die steigende Zahl von AusländerInnen ein Verein zur Betreuung von MigrantInnen gegründet. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind auch von den Betroffenen selbst verstärkte Bemühungen festzustellen, die soziale Lage und die rechtliche Situation der Zugewanderten zu verbessern. Ein besonderer Meilenstein wurde in diesem Zusammenhang in Linz gesetzt. Ausgangspunkt war der von Gewerkschaft und Arbeiterkammer gegründete "Verein zur Betreuung der Ausländer in Oberösterreich", heute migrare. In diesem Verein, der sich zu diesem Zeitpunkt in Richtung einer modernen Beratungsinstitution entwickelte, wurde der türkische Staatsangehörige Mümtaz Karakurt zum Betriebsrat gewählt. Nach den österreichischen Gesetzen stand diesem als Türken jedoch das passive Wahlrecht nicht zu - eine Rechtslage, die bereits seit den 1970er-Jahren kritisiert wurde.

    Zugewanderte aus der Türkei stellen gegenwärtig die zweitgrößte Gruppe ausländischer StaatsbürgerInnen in Linz dar. Mümtaz Karakurt, der seit 1979 in der oberösterreichischen Landeshauptstadt lebt, stammt aus dem anatolischen Sandikli. Er kam als Student und ist heute Geschäftsführer des Vereins "migrare - Zentrum für MigrantInnen". Zu Beginn der 1990er-Jahre entwickelte er zusammen mit seinem Kollegen Vladimir Polak einen Plan, um den Ausschluss ausländischer ArbeitnehmerInnen vom passiven Wahlrecht auf Betriebsratsebene zu bekämpfen. Unterstützt von der Rechtsvertretung der Gewerkschaft für Privatangestellte (GPA OÖ) ging man schließlich vor Gericht - eine Entscheidung, die den Instanzenzug in all seiner einschüchternden Länge zur Entfaltung brachte: vom österreichischen Arbeitsgericht über den Europäischen Gerichtshof bis zur UNO-Menschenrechtskommission.

    Karakurt wurde nach einer Eingabe beim Landesgericht Linz das Betriebsratsmandat aberkannt. Man entschloss sich im Verein nun zur Durchfechtung der Causa auf dem Rechtsweg, wobei die GPA Rechtshilfe leistete. Der Migrationshintergrund spielte bei der Entscheidung, den Rechtsweg im Sinne der "Selbsthilfe" zu beschreiten, eine zentrale Rolle. In einer Sachverhaltdarstellung heißt es zur weiteren Vorgangsweise:

"Der Bf. [Anm.: Beschwerdeführer Mümtaz Karakurt] ist türk. Staatsangehöriger und Angestellter eines Vereins zur Betreuung von Ausländern. Im Mai 1994 wurde er gemeinsam mit einem österr. Arbeitskollegen in den Betriebsrat gewählt. Sein Betriebsratskollege wandte sich darauf an das Arbeits- und Sozialgericht Linz und begehrte die Aberkennung des Betriebsratsmandats des Bf., da diesem das passive Wahlrecht gefehlt habe. Dem Klagebegehren wurde stattgegeben: Gemäß § 53 (1) ArbVG könnten zum Betriebsrat nur österr. AN [Anm.: Arbeitnehmer] gewählt werden oder Angehörige von Staaten, die dem EWR-Abkommen beigetreten sind. Da der Bf. als Staatsangehöriger der Türkei keine dieser Kriterien erfülle, fehle ihm das passive Wahlrecht zum Betriebsrat. Die Entscheidung wurde im Rechtsmittelweg bestätigt."
(UN-Menschenrechtsausschuss 2002)

    Der Migrationshintergrund spielte auch in der medialen Aufbereitung des Falles eine deutliche Rolle, wie nicht zuletzt Schlagzeilen wie "Mümtaz Karakurt und Vladimir Polak, ein Türke und ein Kroate gingen vor Gericht" offenbarten.(direkt. Ein Informationsblatt von migrare, Nr 1/2006, S. 1)Nach der Abweisung seines Antrages im Jahre 1995 wandte sich Karakurt an den Obersten Gerichtshof und in weiterer Folge an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Europäische Gerichtshof erklärte die Beschwerdeführung Karakurts für unzulässig, worauf man von Linz aus den UNO-Menschenrechtsausschuss anrief.

    Der Ausschuss gab dem Beschwerdeführer im Jahr 2002 Recht. Die österreichische Bundesregierung wurde aufgefordert, das passive Wahlrecht für ausländische Staatsangehörige bei Wahlen zur betrieblichen und gesetzlichen Interessensvertretung ohne Einschränkung zuzulassen, da die Republik ein entsprechendes internationales Abkommen unterzeichnet hatte. "It is not reasonable", lautete der Spruch der UN-Kommission,

"to base a distinction between aliens concerning their capacity to stand for election for a work council solely on their different nationality. Accordingly, the Committee finds that the author has been the subject of discrimination in violation of article 26 of the International Covenant on Civil and Political Rights."
(UN-Menschenrechtsausschuss 2002)

    Demnach habe die Republik Österreich gegen ein internationales Abkommen verstoßen und Mümtaz Karakurt diskriminiert. Die Republik wurde aufgefordert, die Gesetzeslage mit den internationalen Abkommen, die Österreich unterzeichnet hatte, in Einklang zu bringen. Die GPA unterstützte diese Forderung nunmehr nachhaltig.

    Die Regierung ließ sich mit der Umsetzung des Kommissionsbeschlusses allerdings Zeit - ungeachtet des medialen Echos, das sich in Überschriften wie "Urteil für Herrn Karakurt hat vorerst keine Folgen. Diskriminierung bei passivem Wahlrecht" kundtat. (der Standard vom 17. Juli 2002, S. 6) Im Jahr 2006, zwölf Jahre nach dem ersten Gang vor Gericht war es schließlich soweit: Aktivitäten und Ideen, von Zugewanderten in Linz erdacht und in Angriff genommen, führten zur Veränderung einer Gesetzeslage, die ausländische ArbeitnehmerInnen nun nicht mehr diskriminierte. Dabei wurden auch internationale Gremien eingeschaltet. Im Jänner 2006 novellierte der österreichische Nationalrat sowohl das Arbeiterkammergesetz als auch das Arbeitsverfassungsgesetz. (BGBl, Jahrgang 2006, 13. Jänner 2006, Teil I, 4. Bundesgesetz, S. 1 f.) Die MigrantInnen-Zeitschrift "direkt" formulierte dazu die Schlagzeilen: "Ista prava za sve!" - "Herkes için eşit hak", dies bedeutet "Gleiches Recht für Alle!". (direkt, Nr 1/2006, S. 1)



Bade, Klaus, Emmer, Pieter C., Lucassen, Leo, Oltmer, Jochen, "Die Enzyklopädie: Idee - Konzept - Realisierung", in: dies. (Hrsg.), Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2007, S. 19 - 27

der Standard, Urteil für Herrn Karakurt hat vorerst keine Folgen. Diskriminierung bei passivem Wahlrecht, 17. Juli 2002, S. 6

Die Presse, Ein Einwanderungsland will es nicht wahrhaben, 14. November 2007, S. 3

migrare - Zentrum für MigrantInnen OÖ, Gleiches Recht für alle! - Endlich dürfen sich auch MigrantInnen zu BetriebsrätInnen wählen lassen, direkt. Ein Informationsblatt von migrare, Nr. 1/2006, S. 1

Fassmann, Heinz, "Zusammenfassung", in: ders. (Hrsg.), 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001-2006. Rechtliche Rahmenbedingungen, demographische Entwicklungen, sozioökonomische Strukturen, Klagenfurt-Celovec 2007, S. 393 - 399

Fassmann, Heinz, Münz, Rainer, Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen, Wien 1995

John, Michael, "Von der Anwerbung der 'Gastarbeiter' bis zu den Folgen der Globalisierung: Arbeitsmigration in Österreich", in: John, Michael, Lindorfer, Manfed (Hrsg.), migration - eine zeitreise nach europa. Ausstellungskatalog (= kursiv. eine kunstzeitschrift aus oberösterreich Heft 10-1/2/03), Linz 2003a, S. 5 - 26

John, Michael, Bevölkerung in der Stadt. 'Einheimische' und 'Fremde' in Linz (19. und 20. Jahrhundert), Linz 2000

Lebhart, Gustav, Marik-Lebeck, Stephan, "Bevölkerung mit Migrationshintergrund", in: Fassmann, Heinz (Hrsg.), 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001-2006: Rechtliche Rahmenbedingungen, demographische Entwicklungen, sozioökonomische Strukturen, Klagenfurt-Celovec 2007, S. 165 - 182

Magistrat der Landeshauptstadt Linz, AusländerInnen, Linz 2009,
abrufbar unter http://www.linz.at/zahlen/040_Bevoelkerung/070_Auslaender, Zugriffsdatum: 10. Mai 2009

UN-Menschenrechtsausschuss Bsw. Dok.Nr. 965/2000, Mümtaz Karakurt gegen Österreich. Sachentscheidung vom 4. April 2002. Diskriminierung eines ausländischen Arbeitnehmers. (= CCPR/C/74/D/965/2000. UN Human Rights Committee)