Haifa ist (k)eine Partnerstadt

von Michael John

In Israel sagt man, in Haifa werde vor allem gearbeitet und produziert. Dieser Ruf verdeutlicht den Gegensatz zu Tel Aviv, wo gefeiert werde, wie auch zu Jerusalem, wo das Gebet im Mittelpunkt stehe. Das "rote Haifa" war im Jahre 1920 der Gründungsort der jüdischen Gewerkschaft "Histadrut", die später, in Israel zur staatstragenden Organisation werden sollte. Bereits unter der britischen Mandatsregierung wurden in dieser Stadt eigene jüdische Betriebe und Genossenschaften aufgebaut. Man gründete Schulen, eine Krankenversicherung, eine Bank und die bewaffnete Miliz Hagana. Die "Palestine Workers Society" wurde 1925 ebenfalls in Haifa organisiert. Haifa wurde infolge einer starken Industrialisierung in der Zwischenkriegszeit zur drittgrößten Stadt Palästinas. (vgl. Fitz/Heller 2008, S. 126 - 132) Diese Aspekte suggerieren eine gewisse Vergleichbarkeit mit der Stadt Linz, die in der Zwischenkriegszeit ebenfalls merkliche industrielle Impulse erhielt und zur drittgrößten Stadt der Republik Österreich wurde. (vgl. dazu allgemein Lackinger 2007, S. 47 ff.) In der Donaustadt war die ArbeiterInnenbewegung ein bedeutsamer politischer Faktor, wie auch der bewaffnete republikanische Schutzbund. Linz sollte zum Ausgangspunkt der Februarkämpfe 1934 werden.(John 2000, S. 208 ff.)

    Die säkular ausgerichtete Stadt Haifa wurde über Jahrzehnte von sozialdemokratischen Bürgermeistern dominiert. Eine pragmatische Stadtverwaltung versuchte erfolgreich, Spannungen zwischen den unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen zu vermeiden. Hier zeigen sich ebenfalls Ähnlichkeiten zu Linz, das seinerseits seit Jahrzehnten von sozialdemokratischen Bürgermeistern regiert wird. Und auch rund um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit können sich Anknüpfungspunkte zwischen beiden Städten ergeben. Vergangenheitsbewältigung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus muss sich nicht auf Geschichtsschreibung und Gedenktage beschränken. Sie kann auch in Form der Verstärkung des Dialogs mit dem Judentum und Israel vor sich gehen - etwa durch Einladungen an vertriebene Juden und Jüdinnen oder durch Kunst- und Kulturprojekte. Dies ist in den vergangenen Jahrzehnten in Oberösterreich durchaus geschehen. Dennoch hat Linz vor allem im Zusammenhang mit dem Status der ehemaligen „Patenstadt Hitlers“ in den USA und in Israel eindeutig ein belastetes Image. In den letzten zwanzig Jahren erschienen diesbezüglich in der Jerusalem Post allein mehr als 40 Artikel mit Linz-Erwähnungen oder Linz-Bezug. (vgl. Archiv Jerusalem Post 1990-2009)

    Ende der 1980er-Jahre versuchte der damals als Stadtrat in Linz tätige Politiker Josef Ackerl eine Städtepartnerschaft zwischen den beiden Städten mit den Verbindungslinien "Industrie" und "rot" zu initiieren:

"Ich habe mir gedacht, dass die beiden Städte gut zueinander passen, und damals war ich als Stadtrat auch für die Partnerschaften zuständig. Und das wäre einmal ein anderer Weg, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Ich habe dann zu Beginn der 1990er-Jahre mit dem Wiener Oberrabbiner Eisenberg gesprochen, und da er Kontakte hatte, diesen ersucht, Schritte zu unternehmen, dass die beiden Städte zu einander finden."
(Interview mit Landesrat Josef Ackerl, OÖ Landesregierung, am 23. Jänner 2009 (Tonband))

    Das Projekt scheiterte allerdings aus verschiedenen Gründen. Josef Ackerl wechselte schließlich in die Oberösterreichische Landesregierung. Nach wie vor weisen Linz und Haifa jedoch als "Städte der Arbeit" und im Bemühen um Toleranz Ähnlichkeiten auf. So gibt es nicht nur hinsichtlich der ArbeiterInnenbewegung Parallelen. Vielmehr lebt auch die stärkste Kolonie von Ex-ÖsterreicherInnen bzw. von Personen mit Österreich-Bezug in Israel im Raum Haifa. (vgl. Mitteilung von Arad Benkö, Österreichische Botschaft in Tel Aviv, Israel, am 12. Mai 2009) Auch die EinwohnerInnenzahl ist durchaus vergleichbar. In Haifa leben rund 260.000, in Linz rund 190.000 Menschen. Bezüglich intensiver Kontakte ist festzustellen, dass viele deutsche Städte sich um Partnerschaften bemüht und auch Städtepartnerinnen in Israel gefunden haben. Bremen beispielsweise ist eine funktionierende Partnerschaft mit Haifa eingegangen.

    Das Land Oberösterreich muss als besonders aktives Beispiel österreichischer Bemühungen um Israel-Beziehungen hervorgehoben werden. Am 24. November 2004 haben Oberösterreich und Israel in Jerusalem eine Absichtserklärung über kulturelle Zusammenarbeit unterzeichnet. Dieses "Memorandum of Understanding" sieht vor, dass gemeinsame kulturelle Aktivitäten zwischen Israel und Oberösterreich gefördert werden sollen. Landeshauptmann Pühringer besuchte mehrfach Israel und lud bereits zweimal aus Oberösterreich vertriebene Juden und Jüdinnen in ihre Herkunftsregion ein.1 Auf Städteebene gibt es jedoch mit Ausnahme der Beziehung Tel Aviv-Wien in Österreich kein Pendant. Auch weniger hochrangige "Freundschaftsverträge" sind zwischen österreichischen und israelischen Städten kaum abgeschlossen worden.1

    Wie wichtig und wirkungsvoll einschlägige Bemühungen sein können, zeigt sich an einem Beispiel, das 15 Jahre zurück reicht. Die Stadt Linz bereitete für das Jahr 1995 eine Ausstellung zur 50-jährigen Befreiung der Stadt vor. Im Zuge der Recherchen wurden ForscherInnen in die USA, nach Russland und nach Israel geschickt. Anlässlich der Befreiungsfeiern lud man auch Juden und Jüdinnen nach Linz ein, die einen bestimmten Bezug zur Stadt hatten: Miriam Schachar wurde 1947 in Linz geboren, ihre Mutter Luisa Führer, die den Holocaust überlebte und jahrelang in Lagern leben musste, war traumatisiert und gab ihr aus lauter Angst vor den Menschen in Linz - Stichworte "Hitler", "Führerstadt" und "Konzentrationslager" und "Mauthausen" - den christlichen Namen "Maria", damit dem Kind auf keinen Fall etwas geschehe. In die Geburtsurkunde wurde deshalb "Maria" eingetragen, drei Jahre später, nach der Ankunft in Haifa wurde der Name in "Miriam" geändert. Miriam hat als Kind und junges Mädchen immer ihren Geburtsort Linz verschwiegen. (vgl. John 1995, S. 287 - 292) Der Bürgermeister und die Stadt Linz luden 1995 Miriam Schachar und ihre Mutter nach Linz zu den Befreiungsfeiern ein.

    Heute dazu befragt, meint Miriam Schachar rückblickend:

"First I was rather sceptical und I thought 'liberation', 'celebration of liberation' in Linz, Austria? Many Austrians and many Linzers were Nazis, Linz was Hitler's pet city why should the people think of 'liberation', for them, it must have been a defeat […] But then my mother and I really enjoyed the stay and we saw the place where I was born, the camp in Ebelsberg and many other places, the mayor welcomed us in a personal meeting. And we met other people, other Jews, US-Americans, Russians and anti-Nazi Austrians. This all together caused a situation, which made me think more relaxed about my origin. I was born in Linz, lived there for almost three years, my first words were in German language, I have something to do with that city. This is a part of my personal history […] And the last day, in 1995 we were on a market similar to a luna park [Anm.: Urfahraner Markt] and it was nice to see how Linz is today."
(Interview mit Miriam Schachar, geb. 1947, am 10. Mai 2009 (Tonband))

    Ihre Mutter Luisa Führer, geboren 1922, lebt heute in Haifa. Sie ergänzt:

"Wir sprechen öfter über Linz und diesen Besuch. Es war wirklich sehr schön und man hat uns viel gezeigt, ich habe da noch Fotos und Bücher. Wir waren in Ebelsberg, das ist heute ja eine Kaserne, die Soldaten haben salutiert vor uns und der Bürgermeister hat uns persönlich empfangen. Es war wirklich ein sehr angenehmer Besuch, an den ich gerne zurück denke."
(Interview mit Luisa Führer, geb. 1922, am 10. Mai 2009 (Tonband))

    Die kleine Gruppe jüdischer BesucherInnen, zu der auch der ehemalige Flüchtlingsbetreuer Moshe Safrai zählte, ebenso wie drei weitere Besucherinnen, hatte den Besuch in Linz 1995 ohne Frage sehr positiv in Erinnerung. 1995 und 1996 wurden neben dem Andenken an die Befreiung weitere einschlägige Aktivitäten gesetzt. Neben der Würdigung wichtiger Erinnerungsorte wie dem KZ Linz II wurde 1995 Simon Wiesenthal, der lange Zeit in Linz gelebt und hier ein Dokumentationszentrum gegründet hatte, der Ehrenring der Stadt Linz verliehen. 1996 wurde im Beisein des damaligen israelischen Parlamentspräsidenten Shewach Weiss, der selbst in Linz gelebt hatte, ein Gedenkstein hinsichtlich des DP-Lagers 67 in Wegscheid errichtet. Im Lager waren u. a. jüdische Holocaust-Überlebende untergebracht. (vgl. Archiv der Stadt Linz 2005, S. 165 und 180)

    Wesentlich später erst kam Micha Shagrir mit Linz in Kontakt. Fragt man in Israel, "Do you know Micha Shagrir?", hört man: "Oh yes, everybody knows who Micha Shagrir is!". Der bekannte israelische Filmemacher wurde 1937 in Linz geboren, sein Vater Karl Schwager war der letzte Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde vor dem Anschluss. (zur Geschichte der Familie Schwager vgl. Wagner II 2008, S. 1211 - 1257) Die Familie lebte in der Bischofstraße in unmittelbarer Nachbarschaft der Familie Eichmann. Es wurde auch in Israel regelmäßig über Linz gesprochen, die Stadt spielte eine große Rolle in den Familiengeschichten. Shagrirs Onkel Wilhelm Schwager kehrte nach 1945 nach Linz zurück und übernahm sogleich das Amt des Präsidenten der Kultusgemeinde, das er bis zu seinem Tod im Jahre 1979 innehatte. Micha Shagrir kam erstmals im Jahre 2002 in gesellschaftsbezogener und bewusster Weise mit Linz in Kontakt. Damals wurde im Bundesgymnasium Linz, BG/WRG Körnerschule die Ausstellung "Jüdische Spuren an der Körnerschule" eröffnet. Micha Shagrir kam in Vertretung einer Verwandten und sprach Grußworte. (vgl. Interview mit Micha Shagrir, geb. 1937, am 11. Mai 2009 (Tonband)) Seitdem entwickelte sich eine fruchtbare Beziehung zwischen dem Herkunftsort und dem Filmemacher, die in zwei Filmen mündete. Shagrir hat im Film "Bischofstraße, Linz" (2006) die Frage gestellt, was das Linz der Zukunft vom Linz der Vergangenheit weiß und sich zusammen mit dem israelischen Historiker Shlomo Sand, der in Tel Aviv lehrt und in Linz geboren wurde, auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit gemacht.

    Zur Arbeit am Film gab der Regisseur ein persönliches Statement ab:

"Der Film war als sehr persönliche und auch historische Sicht von Linz geplant, unter Anderem weil die absurde Nachbarschaft meiner Familie mit der Familie Eichmann einfach zum Denken anregt. Doch auch das Linz von heute hat mich überwältigt […] Als Produzent möchte ich immer dass meine Filme so relevant wie möglich sind. Doch als Regisseur frage ich mich und die vielen interessanten Menschen und Frauen, die ich treffe, aufreibende und tiefgehende Fragen, die vielleicht nicht immer einen Marktwert haben. Durch diese schwierige Aufgabe beide Funktionen miteinander zu verbinden, wurde Linz, das 60 Jahre lang für mich ein zufälliger Geburtsort war, ein integraler Teil meiner Identität und meines Schaffens […] Also darf ich nun zu mir selbst murmeln: Ich bin ein Linzer."
(Schriftliches Statement Micha Shagrir, DVD-Cover "Bischofstrasse, Linz", 2006)

    Mittlerweile bewarb sich Micha Shagrir um die österreichische Staatsbürgerschaft und besitzt nun auch einen österreichischen Pass.

    Der Filmemacher hat inzwischen einen weiteren Film: "Upper Austrians without Borders" wurde 2009 in Rahmen des Filmfestivals "Crossing Europe" uraufgeführt. Am Beispiel des pensionierten, in Tel Aviv lebenden Busfahrers Yechezkiel Mendler wird erneut die Vergangenheit thematisiert. Der Pensionist kam 1923 in Linz als Richard Mendler zur Welt, musste 1938 nach Palästina flüchten, 1940 folgten sein Bruder Albert und seine Mutter. Im Rahmen der Eröffnung des Linzer Filmfestivals wurde Micha Shagrir in besonderer Weise geehrt. Der Regisseur erhielt mittlerweile Auszeichnungen des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz, von der ihm das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Humanität verliehen wurde. (vgl. linz aktiv 189, Winter 2008, S. 65) In Israel wird der Film "Bischofstraße, Linz" in Abständen im Fernsehen gezeigt, der Film erlangte unter KennerInnen so etwas wie Kultstatus. Es gibt in Israel ein starkes Interesse an österreichischer Zeitgeschichte. (vgl. Interview mit Micha Shagrir, geb. 1937, am 11. Mai 2009 (Tonband)) Die Zeitung Haaretz hat unlängst beispielsweise einen umfangreichen Artikel zu den vergangenheitsbezogenen Projekten von Linz09 verfasst, der sehr viele Postings nach sich zog. (vgl. dazu www.tlv100.co.il und www.haaretz.com, 16. März 2009) Die aktuellen Linzer und oberösterreichischen Bemühungen und Projekte zur Aufarbeitung der Vergangenheit und die Bemühungen um Kulturkontakte, wie etwa im Rahmen der Kulturhauptstadt 2009 wurden und werden in Israel mit Aufmerksamkeit registriert.



1 Zu den Kontakten Oberösterreich - Israel vgl. u. A. Land Oberösterreich, Landeskorrespondenz Nr. 92 vom 22. April 2009, Nr. 26 vom 31. Jänner 2006 und Nr. 133 vom 10. Juni 2005



Archiv der Stadt Linz (Hrsg.), Nationalsozialismus. Auseinandersetzung in Linz. 60 Jahre Zweite Republik, Linz 2005

Fitz, Angelika, Heller, Martin (Hrsg.), Linz Texas. Eine Stadt mit Beziehungen, Linz 2008

John, Michael, "'Born in Linz 1947'. Eine jüdische Familie auf dem Weg nach Israel", in: Stadtmuseum Linz-Nordico (Hrsg.), Prinzip Hoffnung. Linz zwischen Befreiung und Freiheit in Linz 1945-1955, Linz 1995, S. 287 - 292

John, Michael, Bevölkerung in der Stadt. 'Einheimische' und 'Fremde' in Linz (19. und 20. Jahrhundert), Linz 2000

Lackinger, Otto, Die Linzer Industrie im 20. Jahrhundert, Linz 2007

Wagner, Verena, Jüdisches Leben in Linz, Band I und II, Linz 2008