In Linz regiert Fitness statt Fürsorge

In Linz regiert Fitness statt Fürsorge

von Michael John

Vereinskultur und Betriebskultur in Linz haben in den letzten Jahrzehnten eine Trendwende vollzogen, die sich in der Formel "Fitness statt Fürsorge" beschreiben lässt. Seit einiger Zeit ist ein Abschied vom eher kulturorientierten Verein zu beobachten. Selbst Organisationen, die sich wie die Kulturvereinigung Stadtwerkstatt oder die Kulturplattform Oberösterreich ausschließlich dem Kunst- und Kulturschaffen widmen, spüren zunehmenden Druck, fit zu sein für eine Situation des Wettbewerbs. Den Verein, den Betrieb, der befürsorgt, Sicherheit gibt und, um ein Wort des Philosophen Schopenhauer zu verwenden, wie ein "Luftkissen" wirkt, "das die Stöße des Lebens mildert", gibt es immer seltener. Eine Organisationskultur, welche die Leistungsfähigkeit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, hat stark an Gewicht gewonnen. Es handelt sich um eine breit gefächerte Entwicklung, die alle Teile der österreichischen Gesellschaft erfasst hat, aber auch in anderen Teilen Europas und der Welt wirksam geworden ist.

    Doch nun ein Blick zurück in die Vergangenheit: die Entwicklungslinie in der oberösterreichischen Großindustrie mutet zu einem bestimmten Grad "sozialistisch" an. Hier, wie auch anderswo, entstand das Idealbild von durchgängig betreuten ArbeiterInnen oder Angestellten, die in Sport-, Angler-, Taubenzüchter- oder Bestattungsvereinen organisiert und vom Betrieb häufig mit Wohnungen und Zusatzpensionen versorgt wurden. Diese ausgeprägte Sozial- und Versorgungspolitik in den verstaatlichten Betrieben wurde seit den 1950er-Jahren betrieben und erfreute sich in den 1960er- und 1970er-Jahren einer Hochphase. Von 1965/66 bis 1973/74 erlebte Österreich eine Hochkonjunktur. Das Baugewerbe boomte, ebenso wie die Industrie. Die Zahl der Industriearbeitsplätze erhöhte sich in Linz von 39.242 im Jahr 1965 auf 46.423 im Jahr 1974. Das tragende Element dieser Entwicklung war die verstaatlichte Industrie. Dort stieg die Zahl der Arbeitsplätze von 24.715 auf 31.871, wobei die damalige VÖEST-ALPINE AG alle Beschäftigungsrekorde brach: 1974 wurden im Werk Linz der VÖEST 26.459 ArbeitnehmerInnen beschäftigt. (vgl. Abel 1995, S. 112) In den 1970er-Jahren erreichte die Bedeutung der verstaatlichten Industrie ihren Höhepunkt. Unter der Kanzlerschaft Bruno Kreiskys wurde sie im Kontext des so genannten "Austro-Keynesianismus" zu einem zentralen Bestandteil österreichischer Wirtschaftspolitik. (vgl. Lacina 1993, S. 15 ff.) Dabei stand zwar die arbeitsmarktpolitische Komponente im Vordergrund, doch unter dem starken Einfluss der Gewerkschaften konnten auch sozialpolitische Ausweitungen diskutiert werden: Die Gefährlichkeit der Schichtarbeit etwa, die grundsätzlich eine enorme Belastung darstellte, das Gefahrenpotential der Industriearbeit in der VÖEST und den Stickstoffwerken im Allgemeinen, oder die zusätzlichen Belastungen, die durch die lange Dauer des Arbeitstages für die PendlerInnen entstanden. Dies alles sollte sozialpolitisch abgefedert werden. Diese Art befürsorgender "Sozialismus" der verstaatlichten Industrie - wenn man diesen Begriff verwenden will - gab es jedoch nur für einen Teil der Linzer ArbeitnehmerInnen.

    In den 1980er-Jahren fand die seit den 1950er-Jahren betriebene Verstaatlichten-Politik ein Ende. Die VOEST-ALPINE AG geriet trotz hoher Zuflüsse aus dem Haushaltsbudget der Republik in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten. (Zur konkreten Problemstellung in den Betrieben der VOEST-ALPINE AG vgl. Neuhofer/Seckauer 1994, S. 69 - 121) Die VOEST-ALPINE und die Vereinigten Edelstahl Werke erhielten zwischen 1981 und 1985 insgesamt 20,8 Milliarden Schilling an staatlichen Eigenmitteln. Einer breiten Öffentlichkeit wurden die Probleme im Zuge der fehlgeschlagenen Öl-Geschäfte der VOEST-Handelsfirma Intertrading und Merx, einem Tochterunternehmen der Chemie Linz, bekannt. (vgl. Sandgruber 1995, S. 493) Mit der Wirtschaftskrise und den finanziellen Schwierigkeiten der öffentlichen Hand gewannen neoliberale Ordnungsvorstellungen nachhaltig an Boden. Die Forderung nach Privatisierung und Entstaatlichung zielte, wie Sandgruber festhält, auf "eine Entlastung der öffentlichen Haushalte und auf eine Verschiebung der Gewichte von staatlicher Lenkung auf marktwirtschaftliche Steuerung"(ebd., S. 494), mithin also auch auf eine stärkere Öffnung der österreichischen Industrie für privates Kapital und private Gewinninteressen und eine Verteilung der Konzernbudgets im Sinne dieser Interessen.

    Die konkrete Entwicklungslinie verlief nunmehr weniger in Richtung der Ausweitung sozialpolitischer Versorgungsleistungen als vielmehr in Richtung Eigenverantwortung und Förderung leistungsstarker, motivierter MitarbeiterInnen in den Großbetrieben, die wiederum dem Betrieb nützen sollten. Der Betrieb leistete dazu seinen Beitrag, doch sollten die ArbeitnehmerInnen auch selbst dafür sorgen, gesund zu bleiben. Leistungsfähigkeit und Gesundheit wurden nunmehr als Kapital begriffen, das dem Betrieb Zinsen bringt. Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich eine tiefgreifende Umgestaltung der heimischen Gesellschaftsstruktur. Ehemals stark von Gemeinwirtschaft und Solidargedanken geprägt, stehen nunmehr Rentabilität, Eigenverantwortung, Unternehmenskultur und "Corporate Identity" stärker im Vordergrund. (vgl. dazu generell Birkigt 2002)

    In Linz ist dieser Paradigmenwechsel besonders ausgeprägt, war die Stadt doch einst Drehscheibe der verstaatlichten Industrie in Österreich. An drei Beispielen wird dieser Wechsel aufgezeigt: am Beispiel des Fußballvereins SK VÖEST Linz, der als Werksportklub aufgebaut, in den 1970er-Jahren als Profiklub der ersten Liga auch zum Symbol der Prosperität der verstaatlichten Industrie wurde und jedenfalls für die ArbeitnehmerInnen der verstaatlichten Industrie im Großraum Linz die Möglichkeit der Identifizierung und der Lukrierung symbolischen Kapitals bot. In der Verstaatlichtenkrise begann sich das Unternehmen zurückzuziehen. Heute gibt es diesen Fußballverein nicht mehr. Am Beispiel des Kapitels "Koks und LIFE" lässt sich der konkrete Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik der Großbetriebe darstellen, wobei sich aber anhand der so genannten CSR, der Politik der Corporate Social Responsibility (Gesellschaftsverantwortung bzw. Sozialverantwortung) der Unternehmen zeigt, dass dieser Wandel in sozialer und gesundheitspolitischer Hinsicht in Oberösterreich nicht so radikal ausgefallen ist, wie es das neoliberale Paradigma vermuten lassen würde. Ein weiteres Beispiel für diese Behauptung stellt der Linzer OMV-Marathon dar. Der Hauptsponsor ist ein ehemals verstaatlichter Betrieb, nunmehr in Privatbesitz, aber nach wie vor in staatlicher Nähe. Veranstalter ist die Stadt Linz. Die elitäre Veranstaltung "Marathon" wurde - wie in vielen anderen Städten - zum Volksfest mit Breitencharakter.



Abel, Rudolf, VOEST - Menschen und ihr Werk. 50 Jahre aus der Sicht der Belegschaft, Linz 1995

Birkigt, Klaus, Corporate Identity. Grundlagen, Funktionen, Fallbeispiele, München 2002

Lacina, Ferdinand, Austro-Keynesianismus, in: Weber, Fritz, Venus, Theodor (Hrsg.), Austro-Keynesianismus in Theorie und Praxis, Wien 1993, S. 15 - 20

Neuhofer, Max, Seckauer, Hansjörg, Bedeutung der Linzer Betriebe der Vöest-Alpine für die Entwicklung des Oberösterreichischen Zentralraums, unveröff. Forschungsbericht, Linz 1994

Sandgruber, Roman, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995